HT 2021: Deutungskämpfe austragen! Der Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung für den Geschichtsunterricht

HT 2021: Deutungskämpfe austragen! Der Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung für den Geschichtsunterricht

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Sven Alexander Neeb, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Der Beutelsbacher Konsens ist auch 45 Jahre nach seiner Entstehung von besonderer Bedeutung für die Fachdidaktiken der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer sowie die politische Bildung in Deutschland und genießt in beiden Domänen allgemeine Akzeptanz.1 Das bedeutet aber nicht, dass der Konsens und seine drei Kernelemente Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Partizipationskompetenz nicht Gegenstand fachdidaktischer und öffentlicher Diskurse sind. Insbesondere die von der Alternative für Deutschland (AfD) in mehreren Bundesländern ab dem Jahr 2018 unter der Bezeichnung „Neutrale Schule“ eingerichteten Meldeportale waren Gegenstand bildungspolitischer und juristischer Auseinandersetzungen.2 Dort sollten Schülerinnen und Schüler unter Berufung auf den Beutelsbacher Konsens mutmaßliche Verstöße ihrer Lehrkräfte gegen das „Neutralitätsgebot“ der AfD melden. Dieser Sachverhalt hatte zur Folge, dass die zentralen und für die politische Bildung konstituierenden Kernelemente des Konsenses erneut in den publizistischen Fokus rückten und ihre gegenwärtige Bedeutung seitdem diskutiert wird.

In dieser Tradition stand auch die Sektion „Deutungskämpfe austragen! Der Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung für den Geschichtsunterricht“, in die CHRISTIAN WINKLHÖFER (Münster) einführte und dabei die Relevanz des Gegenstands für die Geschichtsdidaktik und das historische Lernen herausstellte. Als zentrale Aspekte wurden in diesem Kontext von ihm, neben dem Verhältnis der Konsenssätze zu geschichtsdidaktischen Konzepten, Prinzipien und Normvorstellungen, vor allem Chancen und Herausforderungen bei der Umsetzung in der geschichtsunterrichtlichen Praxis und daraus resultierende Konsequenzen für Aus- und Weiterbildung von Geschichtslehrkräften benannt. Allerdings identifizierte Winklhöfer hier auch ein geschichtsdidaktisches Desiderat, da sich die Disziplin bislang nicht mit den zuvor genannten Elementen beschäftigt habe, weshalb die Sektion allen drei Konsenssätzen einen eigenen Vortrag widmete, die ihre fachspezifische Bedeutung behandelten.

Zuvor erfolgte jedoch durch MONIKA OBERLE (Göttingen) eine Bestandsaufnahme des Beutelsbacher Konsens aus politikdidaktischer Perspektive, wobei vergangene und aktuelle Debatten besondere Berücksichtigung fanden. Sein Ursprung liegt in einer Fachtagung im schwäbischen Beutelsbach, an der im Jahr 1976 auf Einladung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Politikdidaktikerinnen und Politikdidaktiker unterschiedlicher politischer und wissenschaftlicher Ausrichtung teilnahmen. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und parteipolitischen Polarisierung in den 1970er-Jahren bestand das Ziel in der Auslotung eines Minimalkonsenses für die politische Bildung. Die von Hans-Georg Wehling unter dem Titel „Konsens à la Beutelsbach?“3 zusammengefassten Ergebnisse wurden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten umfassend in Wissenschaft, Bildungspolitik und -praxis sowie der nationalen und internationalen politischen Bildung rezipiert. Im Anschluss an die Darstellung der drei Konsenssätze fasste Oberle die politikdidaktische Kritik an den Prinzipien des Beutelsbacher Konsens zusammen, die vor allem das Kontroversitätsprinzip als indifferent und impraktikabel ansieht. Weiterhin ignoriere das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens subtilere Arten der Beeinflussung und die Intention der Partizipationskompetenz sei nicht klar definiert bzw. auf eine unspezifische „Schülerorientierung“ reduziert. In den letzten zehn Jahren konzentriere sich die politikdidaktische Debatte auf die Bedeutung des Beutelsbacher Konsens für die unterschiedlichen Bürgerleitbilder in der politischen Bildung, wobei kontrovers diskutiert werde, ob er politische „Aktionsorientierung“ verhindere. Gleichzeitig werde in diesem Zusammenhang aber auch kritisch hinterfragt, ob eine derartige „Aktionsorientierung“ überhaupt mit dem Kontroversitätsgebot und dem Überwältigungsverbot vereinbar ist. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Aktion „Neutrale Schule“ erfolgte seitens der Politikdidaktik und Bildungspolitik die Klarstellung, dass politische Bildung nicht „neutral“ ist, sondern ein Bekenntnis zum Grundgesetz und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland erfordert. Oberle diskutierte am Ende ihres Vortrags die Frage, wie politisch eine Lehrkraft sein darf und verdeutlichte abschließend am Beispiel des Klimawandels die Einbeziehung des Beutelsbacher Konsens in die Bildung für nachhaltige Entwicklung.

PETER JOHANNES DROSTE (Aachen) setzte sich mit dem Überwältigungsverbot aus geschichtsdidaktischer Perspektive auseinander, wobei die Frage im Mittelpunkt stand, ob im Geschichtsunterricht Wertevermittlung oder Werteerziehung im Kontext der curricular verbindlichen Urteilskompetenz im Vordergrund stehen soll. Diese Unterscheidung sei aber nicht trivial, da die historische Urteilskompetenz bereits hinsichtlich der Sach- und Werturteilsebene differenziert und zudem in einer vom Wertepluralismus geprägten Gesellschaft realisiert werden muss. Droste teilte die Ausführungen von Oberle zum „Neutralitätsgebot“ und lehnte einen neutralen Geschichtsunterricht mit unpolitischen Geschichtslehrkräften ab, wobei hier ebenfalls auf Fundierung und Begrenzung der Meinungsäußerungen von Lernenden und Lehrenden durch das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratische Grundordnung verwiesen wurde. Anschließend widmete sich Droste der praktischen Einübung der Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht, indem einige hierfür geeignete Gegenstände (Sklaverei in der Antike, Kreuzzüge, Französische Revolution und Erklärung der Menschenrechte und Nationalsozialismus) entfaltet wurden. Resümierend stellte er fest, dass eine ethisch-demokratische Erziehung im Sinne der Aufklärung und im Rahmen des Beutelsbacher Konsens im Geschichtsunterricht möglich und notwendig sei und diese durch Anwendung von geschichtsdidaktischen Methoden und Unterrichtsprinzipien (Ideologiekritik, Alteritätserfahrung, Multiperspektivität und Werturteilsbildung) gefördert werden könne.

Zu Beginn seines Beitrags „Kontroversität ohne Plausibilität und Konsens?“ konstatierte HOLGER THÜNEMANN (Münster) eine Omnipräsenz historischer Kontroversen und verdeutlichte davon ausgehend die Relevanz des Kontroversitätsgebots für den Geschichtsunterricht sowie damit verbundene Herausforderungen. Obwohl der Konstruktcharakter von Geschichte allgemeiner Konsens sei, könne daraus nicht die Gültigkeit jeder Position zur Vergangenheit abgeleitet werden. Thünemann betonte, dass die Dimensionen der Perspektivität, Kontroversität und Pluralität nicht nur unterschiedliche Zeitbezüge und Artikulationsformen des historischen Denkens unterscheiden, sondern sich damit auch notwendige Plausibilitätsansprüche gegenüber geschichtspolitischen Instrumentalisierungsversuchen auf empirischer, theoretischer und normativer Ebene vertreten lassen. Allerdings würden empirische Untersuchung der geschichtsunterrichtlichen Praxis und Analysen von Geschichtsschulbüchern darauf hindeuten, dass Geschichte dort kaum als kontroverses Konstrukt verhandelt, sondern oft als geschlossene Narration mit hohem Anspruch auf Deutungsautorität vermittelt wird. Da sich jedoch historisches Denken nach Thünemann nicht auf akademische und schulische Sphären beschränkt, sondern ein soziales und politisches Phänomen sei, würden Lehrkräfte zunehmend mit identitätspolitischen Forderungen konfrontiert, welche die Professionalität der Geschichtslehrkräfte tangieren, aber auf die nicht mit einer Einengung der Diskursräume reagiert werden soll. Eine weitere Herausforderung wurde auf der gesellschaftlichen Ebene verortet, da heutige Kontroversen nicht immer auf der Basis elementarer wissenschaftsmethodischer Standards geführt oder die Möglichkeit der Konsensbildung von vornherein negieren würden. Vor dem Hintergrund der vier verschiedenen Herausforderungen stellte der Referent abschließend die große Bedeutung des Beutelsbacher Konsens für die Geschichtsdidaktik und die Erkenntnisrelevanz des Kontroversitätsprinzips für historische Lernprozesse heraus.

Den finalen Beitrag der Sektion leistete CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg), in dem er die Subjektorientierung in der historisch-politischen Bildung thematisierte. Dabei wurde bereits das historische Denken als Handlung verstanden, das in kontemplativer und interventionistischer Gestalt in Erscheinung treten kann. Während die Kontemplation das reflektierte Nachdenken bezeichne, sei bei der Intervention geschichtliches Handeln als politisch-partizipative Einmischung zu verstehen. Für die Ausgestaltung des dritten Konsenssatzes in geschichtsdidaktischen Kontexten waren für Kühberger die unterschiedlichen Bürgerleitbilder von besonderem Interesse, da diese jeweils maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des Geschichtsunterrichts ausüben würden. Grundsätzlich setzte die Vermittlung einer historisch-politischen Handlungskompetenz im Sinne von Annette Kuhn die Berücksichtigung von Schülerinteressen voraus, die jedoch häufig subjektiv determiniert und somit nicht oder nur eingeschränkt objektivierbar seien. Daraus wurde der Bedarf an curricularen Freiräumen abgeleitet, um den subjektiven Interessen der Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht entsprechen zu können. Allerdings werde die Bezeichnung Schülerorientierung der Komplexität der Materie nicht gerecht, weshalb stattdessen die Bezeichnung Subjektorientierung zu bevorzugen sei. Geschichtsdidaktische Subjektorientierung könne dabei nicht ohne die Auseinandersetzung mit geschichtskulturellen und geschichtspolitischen Manifestationen realisiert werden, um die Lernenden dadurch zu befähigen, ihre individuellen Interessen durch aktive historische (Denk-)Handlungen in die Geschichtskultur der Gesellschaft einbringen zu können.

Insgesamt gelang der Sektion eine differenzierte Betrachtung des Beutelsbacher Konsens aus politik- und geschichtsdidaktischen Perspektiven, durch die nicht nur disziplinübergreifende Schnittmengen, sondern auch beträchtliche Potentiale für historische Lernprozesse identifiziert wurden. Gleichzeitig leistete die Sektion einen nicht unerheblichen Beitrag zur Schließung des festgestellten geschichtsdidaktischen Desiderats.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Christian Winklhöfer (Münster)

Monika Oberle (Göttingen): Der Beutelsbacher Konsens – Bestandsaufnahme aus politikdidaktischer Perspektive

Peter Johannes Droste (Aachen): Wertevermittlung oder Werteerziehung? Anmerkungen zum Überwältigungsverbot aus geschichtsdidaktischer Perspektive

Holger Thünemann (Köln): Kontroversität ohne Plausibilität und Konsens? Geschichtsdidaktische Überlegungen zum Kontroversitätsgebot

Christoph Kühberger (Salzburg): Befähigung zum Handeln durch historisches Denken? Subjektorientierung in der historisch-politischen Bildung

Anmerkungen:
1 Vgl. Siegfried Frech / Dagmar Richter, Einführung: Wie ist der Beutelsbacher Konsens heute zu verstehen?, in: Siegfried Frech / Dagmar Richter (Hrsg.), Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen, Schwalbach am Taunus 2017, S. 13.
2 Vgl. Klaus Ahlheim, Beutelsbacher Konsens? Politische Bildung in Zeiten von AfD und Co., Ulm 2019.
3 Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 173-184.


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